ein Leben in der Warteschleife
Bis Ende der 90er gingen wir alle in richtigen Geschäften einkaufen. Das war die Zeit, in der man noch Telefonzellen suchen musste. Heute bestellen wir in Online Shops und können telefonieren, wo und wann wir wollen. Das Meiste funktioniert per Knopfdruck. Unzählige unsichtbare und kryptische Vorgänge nehmen ihren Lauf. Hat man was bestellt, wartet man in seiner Zelle mit Fernwärme und WLAN. Wartet bis der Mensch mit Scanner vor der Tür steht. Dann darf man seine Sendung entgegen nehmen und sich gegebenenfalls noch einen guten Tag wünschen. Dann verschwindet man mit seinem Paket hinter der Tür. Flüchtig, für sich- als Konsument mit Sendung. Versichert oder unversichert, mit oder ohne Sendungsnummer.
Die vielen fremden Mitarbeiter der Paketdienste sind alles sehr geschäftige fleißige Menschen. Schließlich geht es darum eine Unmenge an Dingen jeden Tag so schnell als möglich hin und her zu fahren. Da bleibt keine Zeit für unnötiges Gerede. Klingeln, Treppen steigen, quittieren und auf zum Nächsten. Wieder läuten, Treppen steigen, quittieren und so ziehen die Tage in das verwirrte Land aus Konsumenten und Paketdienst Mitarbeitern.
Immer mal wieder ist keiner zuhause, dann muss der Zusteller entweder bei einem Nachbarn klingeln oder die Sendung wieder mitnehmen und es am nächsten Tag erneut versuchen. Ab und zu wird das Paket auch in einer Filiale hinterlegt. Dann erhält man per Post eine Benachrichtigung. Meistens funktioniert diese große Paketzustellmaschine einwandfrei.
So sieht unser Alltag aus. Auch meiner. Wie jeder, so sehe auch ich jeden Tag die gelben, braunen und weißen Kastenwägen in der Stadt umherfahren. Man kann von Lebensmitteln über Dienstleistungen bis hin zu upper class Artikeln alles übers Internet bestellen. Einfach Online Formular ausfüllen und schon bewegen sich die unglaublichsten Dinge, wie durch Zauberhand. Alles geht automatisch. Was ein logistisches Meisterwerk ist. Ein extrem komplexes Zusammenspiel von Millionen kleiner Maschinchen und Programmen. Und dazwischen stecken wir, die Normalsterbliche. Die Verbraucher. Eingekapselt, wie auf Standby geschaltete Trychinen im ausgehungerten Bauch eines postkapitalistischen Überwachungs- und Kontrollsystem. Ein System, das wahrscheinlich von größenwahnsinnigen Misanthropen aus Langeweile betrieben wird. Oder es ist lediglich das Zusammenspiel einiger lustiger Zufälle. Wie auch immer, ich weiß es nicht!
Aber heute wird mein Paket ankommen, soviel steht fest! Ich suche die Straße nach dem Kastenwagen ab. Leider habe ich die Zustellung einmal bereits verpasst. Und weil die Sendung keine Jugenfreigabe gemäß §14 Jugenschutzgesetzt hat, konnte sie nicht beim Nachbarn abgegeben werden. Also musste der Zusteller unverrichteter Dinge weiter fahren. Im Internet lassen sich dann die Statusmeldungen abfragen. Dort steht dann zum Beispiel: Der Empfänger wurde nicht angetroffen oder Wir werden einen weiteren Zustellversuch durchführen.
Zum Glück hatte ich am nächsten Tag bis 13 Uhr frei. Heißt, ich konnte länger auf mein Paket warten. Bis 13 Uhr verbrachte ich die Zeit mit aufräumen und staubsaugen. Um 13 Uhr musste ich allerdings dann los. Leider war kein Zusteller gekommen. Kein Zusteller, kein Paket. Frustrierend für jemanden wie mich. Des Umstandes wegen sehr verstimmt, betrat ich, als Sklave unseres digitalen Zeitalters die Straße. Bevor ich mich zur Arbeit aufmachte, warf ich sicherheitshalber noch mehrere, unsichere Blicke die Straße rauf und runter. Die Vorstellung, den Paketdienst um ein Haar zu verfehlen bereitete mir große Sorgen. Aber nichts, was an einen Paketdienst erinnert.
Einmal musste ich mein Paket in dem Getränke-Markt nebenan abholen. Das war ziemlich unangenehm. Diese Scanner sind heutzutage überall in Anwendung. Erst recht bei den Paketzustellungen. Einmal konnte einer der Scanner meinen Ausweis nicht identifizieren. Der Scanner gab stattdessen immer wieder einen hässlichen Ton von sich. Der Grund hierfür war anscheinend eine fehlende Übereinstimmung. In meinem Ausweis war mein Zweitnamen vermerkt, den ich vergessen hatte anzugeben. Das war in diesem Spätkauf. Der Mann des Spätkaufs weigerte sich, mir das Paket auszuhändigen. Er stand mit gepflegten Vollbart, langem, ergrautem Haar, Goldring nebst Goldkette hinter seiner Theke und schüttelte nur den großen Kopf. Keine Chance. Auf dem Ausweis stand ein Zweitname, auf dem Paket nicht. Keine Übereinstimmung. „Da kann man nichts machen, das erkennt der nicht!“ sagte der Mann und zeigte auf den Scanner. „Ich darf Ihnen das Paket nicht geben, tut mir leid!“ es tat ihm nicht leid, soviel stand fest! Die Sendung ging zurück und ich ohne Paket nach Hause. Äußerst unzufrieden saß ich in meiner Küche, starrte auf die Raufasertapete und dachte, dass sich manche Dinge nie ändern. Meinetwegen können sich die Tage gleichen wie ein Haar dem Anderen. Ich bin kein Freund von Veränderung.
Leider könnte mir das mit dem Zurückschicken des Paketes dieses mal wieder blühen. Denn auch bei dieser Bestellung hatte ich es versäumt, meinen Zweitnamen anzugeben. Warum ausgerechnet mir das passieren musste? Ich hasse Namen, erstrecht Zweitnamen. Ich wäre mit einer schlichten Nummer zufrieden. Es würde vieles erleichtern. Im Grunde sind wir sowieso nichts anderes als herumspazierende, degenerierte Nummer, die von Algorithmen hin und her gescheucht werden. Das musste mal gesagt werden.
Als ich von der Arbeit zurück kam, schaute ich gleich in meinen Briefkasten, nach einer Benachrichtigungskarte. Es lag aber weder eine Benachrichtigungskarte noch irgend etwas anderes darin, nur die Werbepost eines Mobilfunkanbieters. Ich ersparte es mir, sie zu öffnen. Obgleich man darin immer mit Herr so und so angesprochen wurde, war es dennoch eine Maschine, die einen mit Herr so und so anspricht. Genausogut könnte man einen Geldautomaten ficken.
Meine gesamte Post wird von Maschinen geschrieben. Alles läuft automatisch. Ein bestimmtes Datum fällt mit einer Uhrzeit zusammen und ein Algorithmus spuckt einen Brief aus. Ein Anderer verschickt ihn dann. Wahrscheinlich schreiben sich demnächst Maschinen gegenseitig Briefe. Dann gibt es nur noch Maschinen, die mit Maschinen reden. Am Ende wird nur noch eine Nachricht hin und her geschickt. Ein Barcode A oder ein Barcode B. Bis etwas den Strom abdreht. Dann herrscht Funkstille.
Jedenfalls schreibt mir schon lange keiner mehr Briefe, nicht mal eine Postkarte. Das Wort Liebesbrief existiert nur noch als verrückte Erinnerung. Mit jungen Jahren bekam ich einmal einen. Allerdings kann ich mich an den Inhalt nicht mehr erinnern. Ein bestimmter Lebensabschnitt rückt aus dem Sichtfeld, treibt ins Vergessen. Fällt über die Klippe. Punkt.
Während wir immer tiefer in diese traumlose Welt der Maschinen stürzen, kommunizieren diese, um Informationen von uns zu erhalten. Aber so ist das nun mal. Dinge hängen miteinander zusammen. Mir ist das einerlei, solange ich meine Pakete bekomme, kann die Welt vor die Hunde gehen. Ich finde es nicht schlimm, wenn ich zum verlängerten Arm der Automaten herunterkomme. Automaten können schließlich auch nichts dafür das wir so dumm sind.
Zuhause angekommen, schaltete ich sofort den Rechner an. Ich überprüfe auf der Seite des Paketzustellers die Statusmeldung. Das geht schnell, Bestellnummer eintippen, dann einen Knopf drücken.
Erstaunlich, was durch das Drücken eines Knopfes für aufregende Routinen in Gang gesetzt werden. Von der schlichten Treppenhausbeleuchtung bis hin zum kostspieligen Marschflugkörper mit Nuklearsprengkopf. Und keiner sieht das Muster zwischen Knopfdruck und der Sache die passiert. Sehr erstaunlich.
Wen interessiert schon ein Quellcode, die Glasfaserkabel, die Nullen und Einsen, eine Informationsübertragung durch Lichtblitze? Hauptsache die Hose kommt an, die Mustererkennung identifiziert den Psychopathen mit Sprengstoffgürtel im Gangway.
Das Paket befindet sich in Zustellung. Mittlerweile war es bereits 21 Uhr. Anscheinend ist das System nicht auf dem aktuellen Stand. Ich vermute, dass irgend so ein Depp von Mitarbeiter nicht vorschriftsgemäß funktioniert und irgend einen Arbeitsschritt ungescannt abgehakt hatte.
Bis 22 Uhr saß ich so vor dem Rechner und klickte mich unmotiviert durchs Internet. Pornos haben den Reiz verloren. Meistens scrolle ich mich durch eine endlose Liste von Kommentaren. Kommentare lesen ersetzt die zweifelhafte Gesellschaft nicht weniger zweifelhafter Freunde. Dabei spielt es keine Rolle unter welchem Thema die Kommentare stehen. Es waren kleine, eingefrorene Emotionen. Im Gegensatz zu den sprechenden Maschinen, die zu anderen sprechenden Maschinen berechenbare Sätze sagen, suggerieren diese Kommentare ein bisschen Lebendigkeit. Obgleich mir bewusst ist, das diese Kommentare von Maschinen geschrieben wurden. Hauptsache es macht Spaß.
Am nächsten Morgen erwachte ich früher als sonst. Mit einem zuckenden Augenlid stieg ich aus dem Bett, kochte Kaffee und setzte mich an den Rechner.
Die aktuelle Statusmeldung meiner Sendungszustellung hatte sich zu meinem Entsetzen seit gestern nicht geändert. Die Sendung befindet sich in der Zustellung.
Demoralisiert scrollte ich mich durch die Kommentare eines Artikels über einen berühmten Schauspieler, der sich in einer Drehpause an einem 17 jährigen Mädchen vergriffen haben soll. Einige forderten die Einführung der Todesstrafe. Andere fanden das moralisierende lamentieren zum kotzen. Andere, der Artikel sei einfach nur scheiße. Ich selbst hatte aufgehört mir eine Meinung zurecht zu basteln. Warum auch, als Verbraucher hat man keine Meinung, man kauft und verbraucht und ehrlich gesagt, nehme ich es den Leuten auch nicht ab, dass sie ihre Meinung zur Schau tragen. Die plappern doch sowieso alles nach.
Selbstverständlich kam meine Teilnahmslosigkeit, meine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben von diesen versteckten Abläufen, mit denen ich ständig in Kontakt stand. Ich hänge schon viel zu lange unter der Glocke aus ungesunder Müdigkeit. Aber in Wahrheit hänge ich nicht, sondern sitze vor einem rauschenden Bildschirm eines Schwarz-weiß-Fernsehers, starre auf die Oberfläche und versuche, die weißen von den schwarzen Kästchen getrennt zu halten. Ein verrückter Umstand. Aber genau das ist mein Leben.
Zum Glück musste ich erst um 15 Uhr das Hause verlassen. Das heißt ich konnte bis 15 Uhr auf mein Paket warten. Ab 10 Uhr überprüfte ich alle zwanzig Minuten die Statusanzeige. Die Sendung befindet sich in Zustellung. Als ich das las kam wirklich Freude auf. Natürlich durfte ich jetzt unter keinen Umständen die Wohnung verlassen. Ich trank viele Tassen Kaffee. Irgendwann aß ich auch ein Knäckebrot. Die Stunden verstrichen. Kein Paketdienst. Die Statusmeldung unverändert. Ich wurde ungeduldig. Schließlich rief ich die Hotline an. Am anderen Ende der Leitung eine Maschine mit Frauenstimme. Wenn Sie Fragen zu Ihrer Sendung haben, drücken Sie die Zwei. Ich drückte die Zwei. Nachdem ich mich durch das Menü gedrückt hatte, erhielt ich die Information, dass meine Sendung zwischen 9 Uhr und 20 Uhr zugestellt wird. Leider war aus technischen Gründen keine genauere Zeitangabe möglich. Es ist zum verrückt werden.
Aus Nervosität fing ich an, den Schimmel zwischen den Kacheln im Bad mit der Zahnbürste weg zu schrubben. Um 14 Uhr immer noch kein Paket. Die letzte Stunde verbrachte ich lethargisch am Fenster. Starrte auf die Straße. Suchte den Kastenwagen. Um 15 Uhr verließ ich zerrüttet das Haus.
Die ganze Zeit musste ich an das Paket denken. Daran, wo es sich gerade befand. Und warum gerade heute meine Mitarbeiter so nett zu mir waren. Frau Werner bot mir ein Stück Kuchen an, während ich in der Kantine resigniert hinter meiner Tasse Kaffee saß. Ich konnte mich über ihr Angebot nicht freuen. Wusste nicht ob ich „Ja“ oder „Nein“ sagen sollte. Wahrscheinlich sah man mir mein Unglück an. Denn plötzlich kam Frau Krüger an den Tisch. Frau Krüger aus der Buchhaltung und sagte: „Sie sind so blaß? Geht es Ihnen nicht gut?“. Entsetzt sprang ich auf. Beteuerte, dass alles seine Richtigkeit hat und verschwand schnell in der Toilette. Ja, ich sah wirklich blas aus. Während mich jemand aus dem Spiegel betrachtete, der behauptete, er sei ich, wurde mir klar, wie mir meine Mitarbeiter auf die Nerven gingen. Wieso konnten sie nicht einfach ihre Klappe halten. Mir würde es besser gehen, wenn sie Automaten wären.
Auf dem Rückweg fiel mir ein, dass ich noch einige Lebensmittel einkaufen musste. Vor dem Supermarkt saß wie immer die alte Romafrau auf ihrem Klappstuhl, braungebrannt, zerfaltetes Gesicht Kopftuch, in ihrem altbackenen Faltenrock und Holzbecher im Schoß. Mit ihrem dämlichen Grinsen konnte sie mich noch nie rum kriegen. Ich würde wetten, daß sie jünger war als sie aussah. Seltsamerweise musste ich heute bei ihrem Anblick an diesen Buddha denken. Nicht, daß ich viel über ihn wusste, ich kannte nur ein paar Dinge aus dem Internet. Er soll ein sehr großer Mensch gewesen sein, der irgendwas wichtiges zu sagen hatte. Vielleicht assoziierte ich sie mit ihm, weil sie gerade so ähnlich auf ihrem Klappstuhl saß. Ab und an murmelte sie unverständliches Zeug, als würde beim vorbeigehen eine Lichtschranke etwas in ihrem Kopf einschalten. Dennoch, heute war sie für mich Buddha, den ich aus dem Internet kannte. Er soll so lange gesessen haben, bis er auf eine großartige Sache gestoßen war. Irgend etwas völlig abgefahrenes. Danach war jedenfalls nichts mehr wie es war. Was genau es war, weiß ich nicht.
Als ich aus dem Supermarkt kam und an ihr vorbei ging, zog sie ihr Bein zur Seite. Ich wusste nicht, ob sie das tat, um mich zu erpressen oder weil sie Angst um ihr altes Bein hatte. Jedenfalls kippte dabei ihr Regenschirm um. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, ich beugte mich runter, um ihn ihr aufzuheben. Aber ich konnte es nicht zu Ende bringen. Ich ekelte mich dann doch zu sehr ihr zu nahe zu kommen. Auf ihrem Schoss lag wie immer ihre Tüte Sonnenblumenkerne. Ihr faltiger Mund kaute auf einem Kern herum und zwei ihrer verdorrten Finger fischten dann die Schalen heraus. Wieder dieses abstoßende Grinsen. Wer war dieser Buddha?
Was war nur mit mir los? Die Alte und dieser Buddha gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Was würde nur mit mir passieren, würde ich tagelang auf einem Klappstuhl sitzen? Würde ich dann auch zu einem Buddha werden? Vermutlich würde mir nur mein Bewusstsein implodieren um dann aus der Schädeldecke ins schwarze All katapultiert zu werden, wo es schließlich von einem gehässigen schwarzen Loch aufgefressen würde. Man konnte doch nicht einfach jahrelang auf einem Klappstuhl sitzen, auf Sonnenblumenkernen herum kauen, dämlich grinsen und nicht durchdrehen.
Mit meinem albernen Baumwollbeutel in der Hand setze ich mich auf eine Bank. Dumm nur, dass die Rechnung nicht aufgehen wird. Denn egal, wie ernsthaft alle Bemühungen auch ausfallen werden, sich in einen Automaten zu verwandeln, es liegen immer Entscheidungen auf dem Weg dorthin, Entscheidungen, die getroffen werden wollen und sogar müssen.
Ich hatte mich entschieden, auf Sendungen zu warten, in einem öden Büro zu arbeiten, in einer leeren Wohnung zu leben, das Leben vor Bildschirmen zu verbringen und in einem Supermarkt Essen zu kaufen. Alternativen interessierten mich nicht, weil ich mich entschieden hatte, das sie mich nicht interessieren. Ich mochte es, wenn Dinge gleich blieben, wie die Leute an der Kasse, die meistens dieselben waren, genauso wie die Wort die wir wechselten. Nämlich sogut wie keine.
Damit ich stets auf Sendungen warten konnte, durften die Bestellungen aus dem Internet nicht abreißen. Eine Zeit lang stand immer dergleiche Zusteller vor meiner Tür, ein langer, sehr hagerer Mann mit blassem Gesicht und Headset. Dann kam er nicht mehr. Warum er nicht mehr kam werde ich nicht herausfinden. Dieser Umstand war so geheimnisvoll, wie die unsichtbaren Bezahlvorgänge, die blitzende Elektronik in den Glasfaserkabeln, die kryptischen Bestell- und Auftragsnummern die ich stets in einen Ordner abhefte.
Die hin und her fahrenden Kastenwägen, die vielen Scanner, die namenlosen Nachbarn und dieser Mensch aus meiner Vergangenheit, der mir ab und zu in Gestalt einer anderen Person begegnete.
Wahrscheinlich ist mein Verstand gerade dabei, sich von mir zu verabschieden, still und heimlich. Ich saß noch eine Weile auf der Bank, entdeckte die Schuhspitzen, einige Kieselsteine, ein Blatt, zwei Zigarettenstummel, ein zertretenes Schneckenhaus und meine teigigen Finger mit ihren wächsernen Fingernägeln und diesen weißen Schlieren, den unappetitlichen Bauch, schließlich die unsportlichen Beine. Nicht mehr lange und der Körper würde auseinanderfallen. Er wird aus dem Leben verschwinden wie dieser Zusteller. Unkommentiert und ohne irgend welches Aufsehen erregt zu haben. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich stand schnell auf und ging nach Hause.
Obwohl ich offensichtlich ein normaler Mensch bin, mit einem durchschnittlichen Elternhaus, den üblichen Lebensabschnitten wie Kindergarten, Schule, Ausbildung und Hamsterrad, schien mich etwas grundlegend verstört zu haben. Gerade so, als hätte ich eines Morgens im Bad vor dem Spiel gestanden und gesehen, wie über Nacht aus meinem Kopf zwei lange schwarze Fühler aus Chitin gewachsen waren. Ja ja ich weiß, das gab es schon.
War es, weil wir uns in Maschinen verwandelte? Warum sich dem Fortschritt entgegen stellen? Es bestand kein Grund, sich dem Unvermeidlichen zu widersetzen. Denn bald wird es keine Rolle mehr spielen, ob Arbeitskollegen, die Frau an der Kasse, meine Nachbarn, die Paketzusteller Maschinen sind. Wir werden alle synchronisiert werden und am Netz hängen wie Zecken.
Spatzen flatterten vom Ast und hüpften aufdringlich und Ansprüche stellend vor mir herum. Ich hörte wie sie sagten: Los, rück das Fressen raus! Du hast welches, wir wissen es. Spiel hier nicht das Unschuldslamm! Ich warf ihnen eine Schrippe in den Staub. Gierig hackten sie ihre kleinen Schnäbel in den gebackenen Teig. Die Natur ist knall hart, machen wir uns nichts vor.
Obgleich anscheinend alles unverändert einfach immer weiter ging, hangelte ich mich durch die Veränderung der Statusmeldungen. Veränderte sich eine Statusmeldungen, so ließ dass auf eine Bewegung der Sendung und meines Lebens schließen.
Vielleicht wird bald die Erde von einem elektromagnetischen Impuls erfasst, der den gesamten Strom abdreht und alle Speichermedien löscht. Dann sitzen wir alle im Dunkeln und dürfen Streichhölzer und Kerzen suchen. Hält die Dunkelheit an, werden unsere Smartphones und Tablettes zu nichts als Unterlegscheiben für Tischbeine zu gebrauchen sein.
Zuhause war mein Rechner noch an. Ich wackelte mit der Maus, dann checkte ich die Statusmeldung: Wir werden einen weiteren Zustellversuch durchführen. Es war zum Verzweifeln.
Morgen ist Samstag! Dachte ich. Ich werde es nicht vermasseln. Ich werde die Sendung empfangen. Ich werde es machen wie Buddha. Wie diese Romafrau auf ihrem Klappstuhl. Ich werde hungrig wie die Spatzen sitzenbleiben, alles ertragen, stoisch nichts tun außer sitzen. Bis die Sendung kommt. All den Hunger, den Durst unterdrücken und mich dann wahrscheinlich wie Kandis im Schwarztee auflösen.
Ich packte die Lebensmittel weg, kochte eine Suppe. Buchstaben als Nudeln schwammen in der Brühe. Beim Essen versuchte ich einen Sinn zu erkennen. Entdeckte Kombinationen aus Buchstaben und Bedeutungen. Sah Antworten über mich und möglicherweise über Buddha schweben. Ein kleines B schwamm auf meinem Löffel bis er im Rachen verschwand.
Es wäre doch möglich, dass wir über unsichtbare Kanäle Informationen erhalten, die unsere Psyche beeinflussten und als Wünsche an uns herantreten. Was ist der Unterschied zwischen Energie und Information? Ergeben bestimmte Kombinationen von Buchstaben in einer Suppe eine Nachricht?
Offensichtlich bin ich nicht autorisiert, diese Botschaften zu verstehen. Wahrscheinlich fehlt mir der Code. Für mich bestehen Sendungen aus der zufälligen Kombination von Zahlen und Buchstaben. Aber ein Zufall bleibt nur solange zufällig bis sich einem der Zusammenhang erschließt. Ich beginne langsam zu verstehen, was hier wirklich vor sich geht. Und es geschehen unglaubliche Dinge. Ein bisschen wie bei Schrödingers Katze, nur das ich in dem Fall die Katze in der schwarzen Schachtel bin und nicht weiß, ob ich lebe oder tot bin.
Für mich sitzt diese alte Frau jedenfalls nicht aus finanziellen Gründen vor dem Supermarkt. Es kann ihr nicht nur darum gehen zu betteln. Wahrscheinlich ist sie keine Frau, im Grunde nicht mal ein Mensch. In Wahrheit ist sie ein komplexer Informations-Relaispunkt. Diese Punkte stehen in direkter Verbindung mit der Meta-Daten-Wolke. Es gibt in jeder Stadt viele dieser Informations-Relaispunkte. Es gibt diese Informations-Relaispunkt in Gestalt von Pennern, herumlungernden Säufern und Bettlern. Leider fehlt mir der Quellcode um sie zu verstehen.
Aber ehrlich gesagt fehlt mir dazu auch der Ehrgeiz. Mein Wille zur Wahrheit ist erschöpft. Ich bin genügsam geworden und warte lieber auf Sendungen. Als Zeitvertreib hefte ich Nummern und Zahlenkombinationen in Ordnern ab.
Meine wasserdichte Quarz-Uhr zeigt genau 23 Uhr und 42 Sekunden. Es war Freitag Nacht und ich saß in einer Küche. Ich schrieb Zahlen als Block in acht Zeilen und Spalten in willkürlicher Reihenfolge auf. Dann klammerte ich die letzte Bestellnummer daran, umkringelte einiges mit gelb und heftete es mit Datum, Ort und Uhrzeit in den Ordner. Ich sehe Zeichen, aber keine Bedeutung.
Morgen wird ein langer aber sehr wichtiger Tag werden. Es wird der Tag der Zustellung. Nichts wird dazwischen kommen. Alles wird reibungslos und planmäßig ablaufen. Das Zeitfenster stimmt. Der Zusteller wird läuten, die Treppen nach oben kommen und mir das übergeben, was ich bestellt hatte. Sein Scanner wird meine Unterschrift aufzeichnen. Und die aktualisierten Daten werden die Statusmedung auf „Zugestellt“ umschalten. Es wird ein guter Tag werden! Alles wird einen Sinn ergeben. Ich bin glücklich.
Dabei ist es unwichtig, was ich bestellt habe. Hauptsache der Strom an Bestellungen bricht nicht ab.
Die Nacht war entsetzlich. Ich träumte schlimme Dinge. In einem Traume stand ein Gnom mit Glatze, roter Arbeitslatzhose und Clipboard in der Hand vor meiner Wohnungstür. In seiner Brusttasche steckten Kugelschreiber. Es verging eine Weile. Dann sagte er, dass in meinem System ein Fehler entdeckt wurde. Es bestünde aber die Möglichkeit, dabei klopfte er mit einem Kugelschreiber laut auf sein Clipboard, weil die Garantie noch nicht abgelaufen war, das fehlerhafte Bauteil auszutauschen.
Der Gnom wurde immer kleiner und am Ende lag an seiner Stelle ein modern gestalteter Baukasten eines Sprengsatzs mit Selbstzünder vor mir. Ich wollte die Bestellung quittieren. Aber es gab keinen Scanner? Ich sagte, dass man mir noch sagen müsste, was genau ich in die Luft jagen soll. Dann kam eine alte Frau mit Putzeimer die Treppe hoch gestiegen. Sie sagte keuchend, das alles geklärt sei. Ich hatte Angst das sie sich vor mir übergab. Ich ging in die Küche, um ein Fenster zu schließen. Es gab einfach zu viele Schalter und leider kein Fenster.
Damit bei der Zustellung nichts schief gehen konnte überprüfte ich meine Gegensprechanlage. Nahm den Hörer ab, klopfte ihn gegen die Wand und lauschte in die Muschel. Nur leises Rauschen. Es passiert, was passieren muss. Das war beruhigend. Danach schaltete ich den Rechner an und wartete bis er hochfuhr.
Schon bald werden wir Rechner um uns herum haben, die uns die Wünsche telepathisch in den Verstand pflanzten. Und sie würden sogar dafür sorgen, dass wir sie erfüllen. Parapsychologische Maschinen. Man würde alle Kreuze aus den Kirchen schrauben und durch Konzernlogos ersetzen. Dann wären wir Gott ganz nahe.
Ich öffnete die Internetseite des Paketdienstes: Die Sendung befindet sich in der Zustellung.
Die Variationsmöglichkeiten der Statusmeldungen sind begrenzt. Dennoch rief ich die Hotline an und drückte mich durch das Menü. Ein Roboter, wie immer eine freundliche Frauenstimme.
Durch Fragen wurde ich durch das Menü gesteuert: Herzlich willkommen bei…, um unsere Service Qualität zu verbessern, zeichnen wir in Einzelfällen das Gespräch auf, wenn Sie damit nicht einverstanden sind, drücken sie die zwei …, um den Status ihrer Lieferung zu erfahren drücken Sie die vier. Ihre Lieferung wird zwischen 9 und 20 Uhr an Sie zugestellt, genauere Angaben sind aus technischen Gründen leider nicht möglich, wir bitten um Ihr Verständnis.
Ich beendete das Gespräch ohne mich zu verabschieden. Maschinen sind nicht nachtragend. Dabei bleiben sie freundlich. Ich ging zum Fenster und schaute auf die Straße. Eine Frau auf einem Fahrrad im Regen an der Ampel wartet auf grün. Meine Welt bietet keine Überraschungen. Die Dinge variieren minimal und verhalten sich plan- und erwartungsgemäß, was auch gut war.
Nichtsdestotrotz läutete um 12 Uhr unerwartet mein Festnetztelefon. Ich besitze noch Festnetz. Eine Katja Engels von einer mir unbekannten Buchhaltungszentrale war am anderen Ende, sie kam gleich zur Sache. Es ging um eine Angelegenheit, die, wenn sie nicht auf der Stelle bereinigt wird, an eine Rechtsabteilung übergeben werden muss. Das klang interessant, aber auch beunruhigend. Sogar ein bisschen bedrohlich. Sollte es auch. Ich erkundigte mich, um welche Forderung es sich dabei handelt und wer ihr Auftraggeber sei. Darüber dürfe sie mir leider keine Auskunft geben, stattdessen legte sie auf. Während ich den Hörer noch an meinem Ohr hielt, überlegte ich, ob die Geräusche am anderen End der Leitung echt oder von Band waren. Automat oder lebendig. Was ist heute noch lebendig? Vielleicht die Spatzen.
Die Statusmeldung hatte sich seit Stunden nicht verändert, das war nichts ungewöhnliches, dennoch beunruhigte es mich. Es war verstörend. Denn was, wenn meine Sendung nie ankommt? Was dann?
Alles hing von den Sendungen ab. Aber wenn es nicht diese ist, dann die Nächste. Wahrscheinlich werde ich noch unzählige Sendungsnummern bekommen.
Ich dachte an die Alte auf dem Klappstuhl, an Buddha, an dieses fürchterliche stillsitzen. An das, was von einer Psyche übrig bleibt, wenn alles verschwindet.
Eines aber war sicher, ein Automat mag zwar still sitzen, doch etwas unerwartetes passieren wird bei und ihm nicht. Was ist dieses Leben? Was lässt Dinge passieren? Was ist die Differenz aus Mensch und Maschine?
Der Schlüssel im Schloss meines Gefängnisses drehte sich ein kleines Stück. Und mit jeder Drehung, komme ich meiner Flucht näher.